Blick in die Zukunft
06.05.2020    Miriam Rönnau
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Experten im Call:

  • Sven Gábor Jánszky, Zukunftsforscher und Direktor des Trendinstituts „2b AHEAD ThinkTank“
  • Brigitte Zypries, Bundeswirtschaftsministerin a.D.; Herausgeberin des DUB UNTERNEHMER-Magazins

Was treibt die Zukunftsforschung während der Coronakrise um?

Virologen wie Professor Christian Drosten sind im Zuge der Pandemie in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Sie geben Politikern Handlungsempfehlungen und scheinen mitzuentscheiden, wie sich unser tägliches Leben in den nächsten Monaten gestalten wird. Doch wo sind die Zukunftsforscher, die sich doch eigentlich genau damit beschäftigen: der Zukunft? „Die Zukunftsforschung kann im Augenblick keine wirkliche Wahrscheinlichkeit berechnen“, sagt Sven Gábor Jánszky, renommierter Vertreter der Zunft.

Das hat einen Grund: „Wissenschaftlich seriöse Zukunftsforschung basiert auf Analysen von empirischen Daten. Zukunftsforscher analysieren, welche Entscheidungen wahrscheinlich sind und ziehen sich ihre Daten etwa aus Tiefen- oder Experten-Interviews. Doch wenn man heute Politiker oder Entscheider aus Unternehmen trifft und sie nach ihren Entscheidungen fragt, zucken sie nur mit den Schultern“, sagt Jánszky.

Das macht es kaum möglich, seriöse Prognosen zu stellen. Doch es gibt Alternativen: Wenn es keine Daten gibt, skizziert die Zukunftsforschung verschiedene Szenarien. Diese zeigen, was passiert, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Dinge passieren. „Wir Zukunftsforscher haben Mitte März fünf Szenarien veröffentlicht, wie sich Deutschland im Zuge der Coronakrise entwickeln könnte. Alles ist abhängig davon, was Ostern und Pfingsten passiert“, so Jánszky. Dies seien die Hauptzeitpunkte, an denen die Politik Entscheidungen trifft. Ostern ist inzwischen vorbei – und zwei dieser Szenarien sind damit bereits ausgeschieden.

Wie sehen die Szenarien konkret aus?

„Wenn man sich diese anschaut, ist folgendes wichtig: aus der Perspektive einer seriösen wissenschaftlichen Zukunftsforschung ist keines der Szenarien wahrscheinlicher als das andere“, so Jánszky.

Szenario eins:

Nicht nur die Infiziertenzahlen sinken, auch die Infektionsketten sind bis Pfingsten – also bis Ende Mai – nachvollziehbarer geworden. Somit gibt es weitere Lockerungen; Unternehmen können ihre Arbeit wieder aufnehmen und eine Rückkehr zur Normalität bis Ende des Sommers ist wahrscheinlich. Auslandsreisen werden aber weiterhin nicht möglich sein. Hier kann man Ende des Jahres zurückblicken und sehen, dass die Corona-Krise trotz der wirtschaftlichen Auswirkungen nur eine temporäre Episode war, wie man sie schon öfter erlebt hat.

Szenario zwei:

Bis Pfingsten sind die Infiziertenzahlen moderat. Es gibt aber weiterhin viele Neuinfizierte und es lässt sich nicht nachzuvollziehen, wo sie sich angesteckt haben. Dann muss die Politik überlegen, was zu tun ist: Entweder eine Grundsatzentscheidung treffen und das gesellschaftliche Leben insgesamt wieder einschränken, oder aber zwischen den Gruppen differenzieren. Und das hieße: Risikogruppen müssen daheim bleiben, während andere ihre Arbeitsplätze aufsuchen können. Damit gehen aber auch ethische Diskussionen einher. Doch: Die Wahrscheinlichkeit, dass man durch die individuelle Risikoverteilung die Gesamtsituation in den Griff bekommen kann, ist relativ hoch – siehe Asien. So könnte sich das Leben bis Ende des Jahres normalisieren.

Szenario drei:

Die Politik entscheidet sich zu Pfingsten, dass alle Bundesbürger zu Hause bleiben müssen. Das wäre der dauerhafte Shutdown – und damit das Worst-Case-Szenario. Nicht aus gesundheitlicher, sondern aus gesellschaftlicher Perspektive. Auch auf die Demokratie, die von Werten, Meinungen und Diskussionen lebt, könnte das Auswirkungen haben. Und es werden sich zwei Gruppen von Menschen bilden: die einen, die resignieren und nach Führung suchen – und die anderen, die rebellieren.

Was bedeuten diese Prognosen für Unternehmen und Wirtschaft?

Wenn alle drei Szenarien gleichermaßen denkbar sind, gilt: „Unternehmen müssen ihre Strategien daran anpassen. Sprich: Egal welches Szenario eintrifft, sie müssen Vorkehrungen treffen und vorbereitet sein“, betont Jánszky.

Brigitte Zypries, Bundeswirtschaftsministerin a.D. und Herausgeberin des DUB UNTERNEHMER-Magazins, ist überzeugt: „Das dritte Szenario ist nicht mehr sehr wahrscheinlich.“ Denn die Infektionsrate läge schon seit Längerem bei rund 0,76. Wenn zehn Menschen infiziert sind, stecken sie also nur sechs oder sieben an, obwohl es Lockerungen gab. Insgesamt ginge der Großteil der Bundesbürger verantwortungsvoll mit den Maßnahmen um. Zypries: „Ich bin sehr optimistisch, dass wir eher zu Szenario eins neigen. Es sieht so aus, als würde alles ordentlich verlaufen.“

Neben den von Jánszky geschilderten Szenarien sind Zypries weitere Punkte wichtig:

  • Stichwort Globalisierung: Die Krise zeigte, wie wichtig es ist, dass die globalen Lieferketten funktionieren. Es muss eine Debatte geben, ob Deutschland wieder stärker auf die nationale Versorgung setzen möchte oder ob es weiterhin bei globalen Lieferketten bleiben soll. Zypries plädiert für letzteres: Sich abzugrenzen könne nicht die Lösung sein, doch es werde andere Formen geben, bei denen ein Zurückfahren der Strukturen sinnvoll ist.
  • Beispiel Reisebranche: In vielen Unternehmen wird man künftig darüber nachdenken, ob Treffen wirklich persönlich stattfinden müssen. Die Erfahrung der Krise zeige: Es geht auch digital. Das wird die Reisebranche auf Dauer treffen und womöglich in eine geringere Dimension überführen. Doch dafür werden Unternehmen, die sich mit der Digitalisierung befassen, indem sie etwa Breitbandverbindungen bereitstellen oder aber Geräte beziehungsweise Anwendungen entwickeln, strukturell die Gewinner sein.
  • Arbeitnehmer in Berufsgruppen wie etwa der Pflege sollten auch über die Krise hinaus geschätzt bleiben. Hier gilt es, die Wertschätzung im Gesundheitsbereich etwa durch Tarifverträge, bessere Bezahlung und eine bessere Ausbildung zum Ausdruck zu bringen. Generell gelte: Bei gewissen Berufsgruppen darf deren Wichtigkeit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht wieder vergessen werden.

Stichwort Agilität: Wird sich die Einstellung der Mitarbeiter jetzt verändern?

Menschen haben durch die Krise verstanden, was technologisch möglich ist – und wo Vorteile, wo Nachteile liegen. „Es gilt, diese Form von Kompetenzaufbau nicht überzubewerten. Veränderung kommt häufig nicht durch einen Bewusstseinswandel, sondern durch einen Wandel im Umfeld“, sagt Jánszky. Nur wenn Unternehmen das Umfeld verändern, indem beispielsweise weniger Reisen stattfinden und mehr Meetings virtuell abgehalten werden, wird sich auch tatsächlich etwas ändern: „Ich glaube nicht an den Bewusstseinswandel bei den Mitarbeitern, sondern daran, dass Politik und Unternehmen die Gestaltungshoheit über die Zukunft in die Hand nehmen und das Umfeld neu gestalten – und nur dann kann sich etwas ändern.“

Welche Bedeutung wird die Krise für die Automobilbranche haben?

„Ich glaube, wir haben durch Corona einen neuen Fokus bekommen“, sagt Zypries. Vor Corona gab es etwa die Debatte um die Verbesserung von öffentlichen Verkehrsmitteln. Doch jetzt steht wieder der Individualverkehr im Vordergrund – der Trend geht im Moment Richtung Fahrrad und Auto.

So stellt sich für die Branche die Frage, wie sie es schafft, den ökologischen Anforderungen aus der Zeit vor Corona gerecht zu werden. Und es trifft die Automobilindustrie besonders, weil sie sich schon vor der Krise in einer schwierigen Phase befunden habe – etwa durch den Schwenk vom Verbrennungs- zum Elektromotor. „Ich sehe, dass die Automobilbranche eine Schlüsselindustrie in Deutschland ist und hoffe sehr, dass ihre Situation besser wird.“

Ein Sprung in Jahr 2030: Wie wird Deutschland  auf die Krise zurückschauen?

„Aus meiner Sicht ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir 2030 Corona gar nicht mehr vor Augen haben“, sagt Jánszky. Doch das hänge vor allem davon ab, wie sich die Situation weiter entwickle. Wenn sich bis zum Sommer alles relativ normalisiert hat, dann wird es keine Veränderungen geben, an die man sich langfristig erinnern wird.

„Was Zukunftsforscher seit der Wende immer wieder beobachten, ist, dass Politik und die gesellschaftliche Vision immer weiter zurückgefahren wurde – und dass Visionen der Wirtschaft und damit der Technologiebranche überlassen wurden. Es ist kein Zufall, dass Zukunftsforscher bei der Analyse von Trends nicht nur auf die Politik achten, sondern auch auf Google und China“, sagt Jánszky. Wenn die Politik also weiterhin Verantwortung zeigen muss, wird man 2030 auf diesen Sommer zurückschauen und ihn als den Zeitpunkt betrachten, an dem die Politik wieder das Ruder in der Hand hatte.

Der Online-Versandhändler Amazon scheint als klarer Gewinner aus der Krise zu gehen – aber was bedeutet das für die deutsche Wirtschaft und Politik?

Als Verleger des DUB UNTERNEHMER-Magazins beobachtet Jens de Buhr den Online-Riesen Amazon gerade besonders. „Die Amazon-Aktie liegt auf einem Allzeithoch, es gibt Analysehäuser die sagen, der Kurs des Titels könnte demnächst 3.000 Dollar erreichen – und dann wäre das Unternehmen so viel wert wie der gesamte Dax“, so de Buhr.

Für ihn ist jetzt schon klar: Solche Entwicklungen werden den aktuellen Digitalisierungsboost weiter antreiben. Zypries nimmt eine andere Perspektive ein: „Die Krise hat gezeigt, wie wichtig das Umfeld ist, in dem man lebt – und wie viel Solidarität es gibt, um kleinere Händler zu unterstützen.“ Zypries verzichtet übrigens bewusst auf den Kauf von Produkten bei Amazon und geht lieber zum Buchladen um die Ecke. Denn: „Es liegt auch in der Hand von jedem von uns, Amazon zu bremsen“, betont sie.

06.05.2020    Miriam Rönnau
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