Portrait: Scott Galloway
27.05.2020    Madeline Sieland
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Egal ob Media, E-Commerce, Spracherkennung oder die Cloud: „An Amazon führt kein Weg vorbei“, sagt Scott Galloway. Der US-Amerikaner zählt zu den bekanntesten Kritikern der BigTechs. Und Amazon ist in seinen Augen aktuell das dominierendste Unternehmen der Welt.

Zur Person

Portrait: Scott Galloway

Scott Galloway

ist Professor für Marketing an der NYU Stern Universität – Gründer von L2 Inc, Red Envelope und Prophet – Bestsellerautor von „Die Vier – die geheime DNA von Apple, Amazon, Facebook und Google“ und „Algebra des Glücks“.

Wie gefährlich ist Amazon?

Scott Galloway: Amazon verdient jeden dritten US-Dollar im E-Commerce und dominiert damit den Online-Handel. Die Folgen sind weniger Neugründungen. Deren Zahl hat sich in den USA in den vergangenen 40 Jahren halbiert. Das Ganze führt aber auch zu einem geringeren Beschäftigungswachstum, niedrigeren Steuereinnahmen und einem weniger wettbewerbsfähigen Markt, was insgesamt schlecht für die Wirtschaft ist. Amazon ist eine große Bedrohung für Wirtschaft und Politik. Der Konzern überrollt die Regierung. Amazon beschäftigt 100 Vollzeit-Lobbyisten und hat seinen zweiten Hauptsitz in Washington, D. C.

Wird Amazon die Weltherrschaft übernehmen?

Galloway: Amazon ist eine existenzielle Bedrohung für die Wirtschaft. Die Regierung ist gefordert, einzuschreiten, wenn Unternehmen zu mächtig werden. Stellen Sie sich vor: Mercedes würde versuchen, BMW und Volkswagen zu kaufen. Das würde an den Kartell­behörden scheitern. Dieser Konzern hätte zu viel Einfluss auf Lieferanten und Verbraucherpreise. Wichtig für ein gesundes Wirtschaftssystem sind viele Innovationen und sprudelnde Steuereinnahmen. Daran wird es zunehmend mangeln, wenn die Regierung nicht einschreitet und Amazon zerschlägt oder reguliert.

Führen die Digitalkonzerne Böses im Schilde?

Galloway: Das glaube ich nicht. Aber zu unserem Wirtschaftssystem gehört, dass wir Regeln und Vorschriften haben, die zum Einsatz kommen, wenn ein Unternehmen so mächtig wird, dass andere nicht mehr mit ihm konkurrieren können. Dann wird entweder zerschlagen oder reguliert. Aber aus irgendeinem Grund vergöttern wir die Chefs von Amazon und anderen BigTechs als sympathische Helden. Deshalb gehen Behörden und gewählte Amtsträger mit ihnen sehr nachlässig um. Sie haben sich dem BigTech-Fanclub angeschlossen und wollen nichts tun, was als hinderlich für Innovation betrachtet werden könnte.

Können Konzernchefs mächtiger werden als der Staat?

Galloway: Die Leute, die uns auf den Mars bringen werden und die sich Covid-19 annehmen, sind nicht die NASA oder die CDC. Das sind Typen wie Elon Musk und Jeff Bezos. Sie haben das Geld. Und Menschen mögen es, wenn sich Milliardäre solcher Projekte annehmen. Allerdings entscheiden diese Typen jetzt mit, wer getestet wird und wer nicht. Ich halte es für gefährlich, dass etwa Elon Musk sich gegen Einwände der örtlichen Gesundheitsbehörde dazu entschied, seine Fabrik in Kalifornien wieder zu öffnen. Es ist gefährlich, gewissermaßen ungewählte Amtsträger zu haben, deren Hauptverdienst darin besteht, Milliardär zu sein.

Die Macht der Milliardäre wird von geschäftlichem Erfolg gespeist. Wie geht es mit Amazon weiter?

Galloway: Die Spracherkennung ist die disruptivste Technologie für die nächsten zehn Jahre. Die Stimme ist die primäre Schnittstelle zur digitalen Welt. Wer sie kontrolliert, schafft Hunderte von Milliarden Dollar an Stakeholder-Value. Denn dieser jemand hat einen außerordentlichen Einfluss darauf, wie Verbraucher mit der digitalen Welt, dem Handel, sozialen Netzwerken in Verbindung stehen und welche Apps sie nutzen. Alexa ist eine interessante Fallstudie für Amazon-Power und Unternehmergeist. Eigentlich hatte Apple mit Siri die Führung im Bereich Spracherkennung inne. Doch Amazon hat diese Position im Grunde genommen usurpiert, also widerrechtlich die Macht an sich gerissen.

Wofür kann Spracherkennung genutzt werden?

Galloway: Als Nächstes werden wir Zero-Click-Ordering sehen. Das heißt, Amazon wird mich einmal in der Woche darüber informieren, welche Produkte automatisch nachbestellt werden – ob Eier, Milch, Müsli oder Bier. Da kommt auch Künstliche Intelligenz ins Spiel. Amazon kennt unsere Kaufhistorie und kann automatisch proaktiv Artikel für Sie und mich bestellen. Das kann so weit gehen, dass Amazon sagt: „Okay, Sie brauchen jetzt mehr Toilettenpapier, mehr Papierhandtücher, neues Hundefutter.“ Oder Sie sagen: „Alexa, wir veranstalten am Freitag eine Dinnerparty für sechs Personen. Eine davon ist Veganerin.“ Ein Menü und die Rezepte werden dann automatisch zusammengestellt und die Lebensmittel zugeschickt.

Was kann Alexa noch?

Galloway: Amazon wird die am schnellsten wachsende Company im Gesundheitswesen in den USA werden. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Kind hat einen Ausschlag auf dem Arm. Diesen zeigen Sie dem Amazon Echo Show, der über eine intelligente Kamera verfügt.

Amazon wählt dann eine der Kinderdermatologinnen aus, die gegen eine Provision auf der Plattform gelistet ist. Die Ärztin wird sich den Ausschlag ansehen, ein Medikament verschreiben und es sofort in der Amazon-Apotheke bestellen. Danach wird Amazon sein beispielloses Fulfillment-Netzwerk nutzen, um Ihnen diese Creme in nur 48 Minuten nach Hause zu bringen.

Amazon wird das Gesundheitswesen vor allem durch Zeitersparnis disruptieren, die der Konzern dank seiner Infrastruktur bieten kann. Ein Beispiel: Eltern, die ein Kind mit Diabetes haben, verbringen zwischen acht und zwölf Wochen im Jahr damit, die Krankheit des Kindes zu managen. Amazon wird die Reibungsverluste in der Gesundheitsfürsorge dramatisch reduzieren. Und Spracherkennung wird dabei eine zentrale Rolle spielen.

Wird Gesundheit mit Amazon günstiger?

Galloway: „Möchten Sie Ihre Gesundheitskosten um die Hälfte reduzieren? Dann fragen Sie Alexa nach Amazon Healthcare“ – das wird eines Tages auf einem Echo-Bildschirm stehen. Der Konzern weiß auf Basis von Lebensmittel- und Kleidungskäufen, welchen Body-Mass-Index und welche Postleitzahl Sie haben und ob Sie in einer Beziehung leben. Aus diesen Infos werden Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand gezogen. Amazon könnte so die gesündesten Haushalte in den USA herausfiltern und ihnen eine Krankenversicherung zu einem niedrigeren Preis anbieten. Schaden würde das denen, die krank sind. Aktuell zahlen in der Krankenversicherung gesunde Menschen für kranke mit.

Was macht Sie so sicher, dass Amazon zum Gesundheitsspezialisten wird?

Galloway: Wenn Menschen mich fragen, warum Amazon, Google oder Apple ins Gesundheitswesen einsteigen, sage ich immer: Es ist nicht so, dass sie wollen. Es ist so, dass sie müssen, um weiter zu existieren. Amazon und Co. suchen Branchen nach drei Kriterien aus: groß, schlecht geführt, üppige Margen.

Wo greifen Amazon & Co. noch an?

Galloway: Ich rechne mit der Bildungsbranche. Vor allem Google und Apple werden in das Geschäft mit Zertifizierung einsteigen und Partnerschaften mit großen Universitäten eingehen. In den USA ist eine Hochschulausbildung unverschämt teuer geworden. Durch Covid-19 werden zehn bis 30 Prozent der Studienanfänger im Herbst nicht direkt aufs College gehen. Sie werden ein Jahr Pause machen oder arbeiten gehen. Es ist aktuell nicht zu rechtfertigen, 58.000 Dollar pro Jahr für Unterricht per Zoom zu zahlen. Das zwingt Universitäten, die Kosten für die Ausbildung zu senken. Gleichzeitig haben sie hohe Fixkosten.

Sie werden also nach New Business suchen. Naheliegend wäre es, die Zahl der Einschreibungen zu erhöhen. Top-Unis haben weit mehr Bewerber als freie Plätze. Sie werden sich mit den Digitalkonzernen zusammenschließen, um mithilfe von Technologie das Angebot und die Zahl der Studenten dramatisch zu erweitern. Zunächst ist das gut. Mehr Menschen bekommen Zugang zu einer Weltklasse-Ausbildung. Auf der anderen Seite wird das wellenartige Auswirkungen auf das gesamte Hochschulsystem haben. Ein Drittel der Universitäten, die nicht zur Top-Kategorie gehören, werden Einnahmeneinbrüche von 20 bis 30 Prozent haben. Das werden viele nicht überleben.

Wo steht Amazon im Vergleich zu Google, Apple & Co.?

Galloway: Für mich ist Amazon – nicht nur im Vergleich mit den anderen BigTechs – im Moment das dominierendste Unternehmen der Welt. Es gibt keine Company, die in so vielen verschiedenen Bereichen und Sektoren so gut aufgestellt ist. Egal ob Media, E-Commerce, Spracherkennung oder Cloud: An Amazon führt kein Weg vorbei.

Wie wichtig ist Jeff Bezos für Amazon?

Galloway: Er wird in die Geschichte eingehen als der größte Visionär in der Wirtschaft meiner Generation und vielleicht des 21. Jahrhunderts. Er ist außergewöhnlich, weil er den Verbraucher in den Mittelpunkt seiner Strategie stellt und Aktionäre ihn dennoch verehren. Das passt normalerweise nicht zusammen – bei Amazon schon.

Ein Beispiel ist der Analysten-Call Ende April: Die Aktionäre erwarteten einen Gewinn von vier Milliarden Dollar. Bezos teilte ihnen mit, dass er alles reinvestieren wolle – unter anderem in Arbeitsschutz und Schutzausrüstung, Covid-19-Tests der Belegschaft und höhere Löhne der Mitarbeiter in den Logistikzentren. Dahinter steht die visionäre Idee, die erste Covid-19-freie globale Lieferkette zu schaffen.

Nur wenige andere Firmen haben Aktionäre, die es tolerieren würden, wenn der CEO sagt: „Ich nehme den gesamten Gewinn, den ich euch versprochen habe und werde ihn reinvestieren.“ CEOs anderer Unternehmen bekommen Probleme, wenn sie zehn Prozent der erwarteten Gewinne reinvestieren wollen.

Die Grundidee von Bezos ist visionär. Wenn Sie ein Verkäufer, Verbraucher, Lieferant oder Arbeiter sind: Würden Sie dann nicht auch die Lieferkette wollen, die nahezu Covid-19-frei ist? Und soweit ich das beurteilen kann, gibt es kein anderes Unternehmen auf der Welt, das dies anbieten könnte.

Wenn also FedEx, UPS oder DHL ähnliches versuchen würden, wäre es schwierig, weil sie beispielsweise keine Kontrolle über den E-Commerce und die Bestellungen haben. Amazon kann etwa Produkte aus dem Sortiment nehmen, wenn diese nur schwer sicher zu liefern sind oder wenn sie mehr als eine Person benötigen, um das Produkt im Lager aus dem Regal zu bekommen. Denn dann wäre Social Distancing nicht möglich.

Welche Schwächen hat ein Konzern mit einem Marktwert von 1,23 Billionen US-Dollar?

Galloway: Das Einzige, was zwischen Amazon und einer Marktkapitalisierung von zwei Billionen Dollar steht, ist die Regulierung. Die Situation ist folgende: Sollte Amazon sich in Europa auf anspruchsvollere Bekleidung konzentrieren, wird Zalando dichtmachen – vielleicht nicht von heute auf morgen, eher langsam. Wenn Amazon sich auf das Lebensmittelgeschäft fokussiert, wird Carrefour Probleme bekommen. Macht und Einfluss der Digitalkonzerne werden allmählich bedrohlich. Deshalb gibt es eigentlich das Wettbewerbsrecht, um das zu verhindern. Aber Amazon konnte der Justiz bis jetzt immer irgendwie ausweichen.

27.05.2020    Madeline Sieland
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