Illustration E-Health Patienakte
20.06.2019    Miriam Meißner
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Hierzulande sind 109 gesetzliche Krankenkassen dafür zuständig, die Gesundheitsversorgung zu finanzieren, ergänzt durch 45 private Krankenversicherungen. Die Bundesbürger können sich in knapp 2.000 Krankenhäusern und von rund 230.000 niedergelassenen Haus-, Fach- und Zahnärzten sowie Psychotherapeuten behandeln lassen. Jährlich werden Arzneimittel im Wert von 41,1 Milliarden Euro verordnet. Klinikaufenthalte, Hilfsmittel und andere Maßnahmen ließen die Gesundheitsausgaben im Jahr 2018 – so die Schätzung des Statistischen Bundesamts – auf 387 Milliarden Euro steigen. Damit liegen sie 
bei rund 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Europa geben nur Frankreich und die Schweiz noch mehr für Gesundheit aus.

Allerdings, so ordnet es die OECD ein, entfallen 15 Prozent aller Gesundheitsausgaben auf vermeidbare Patientenschäden – von falscher Medikation bis hin zu überflüssigen oder misslungenen Operationen auf Basis fehlerhafter Diagnosen. Die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit Hedwig François-Kettner sieht deshalb Handlungsbedarf: „Die Digitalisierung ist eine Chance für den weiteren Ausbau der Patientensicherheit im Gesundheitswesen. Durch digitale Anwendungen können Schnittstellen und Prozesse zwischen Haus- und Fachärzten, ambulantem und stationärem Bereich sowie der Medikamentenabgabe in der Apotheke besser miteinander verbunden werden.“ Das unterstreicht auch Dr. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am Universitätsklinikum Essen. Jedoch: „Die Angst der Ärzte, dass die Digitalisierung ihr Berufsbild negativ verändert, ist enorm“, so der Mediziner.

Transformations-Blockade

Dabei wird gerade die Kooperation von Mensch und Künstlicher Intelligenz (KI) die Medizin revolutionieren. KI-Systeme können Datenmassen gezielt nach Auffälligkeiten scannen. Heißt: genauere Diagnosen, bessere Prävention, passgenauere Therapien. Das Ganze rasend schnell, ohne Anzeichen von Ermüdung. KI braucht keinen Urlaub. Aber ausgerechnet das deutsche Vorzeige-Gesundheitswesen liegt bei der Digitalisierung im internationalen Vergleich weit zurück.

Die Bertelsmann Stiftung hat in einer Studie für 17 Länder – 14 europäische sowie Australien, Israel und Kanada – einen Digital-Health-Index erstellt, der Auskunft darüber gibt, welche Strategien verfolgt werden, welche technologischen Voraussetzungen vorhanden sind und welche tatsächlich genutzt werden. Mit einem Score von 81,9 liegt Estland an der Spitze dieses Vergleichs.

Deutschland findet sich mit einem Score von 30,0 auf dem vorletzten Platz. Es sind nicht fehlende Initiativen, es ist die fehlende Gesamtstrategie. Und das ist fatal. Denn während sich die großen Player hierzulande gegenseitig blockieren, lauern schon Technikkonzerne wie Google und Amazon, um das (deutsche) Gesundheitswesen zu entern. Amazon ist zurzeit dabei, den Prototypen einer Krankenversicherung zu entwickeln. Die Alphabet-Tochter Verily arbeitet an datengestützten Präventionsformen für Krankheiten wie etwa Herzinfarkt. Eines ist sicher: Durchsetzen werden sich am Ende Angebote, die einfach und komfortabel sind – und das können die US-Tech-Riesen.

„Es fehlen einheitliche Rahmenbedingungen beim Datenschutz und bei technischen Standards, ebenso wie finanzielle Anreize, etwa Investitionsprogramme bei Kliniken.“

Gut vernetzt

Einfach sollte vor allem auch der Austausch von Patientendaten sein. Schon seit 2004 gibt es Pläne für die Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA), um den Informationsaustausch zwischen Arzt, Apotheke und Klinik zu verbessern und so doppelte Untersuchungen oder Fehldiagnosen beziehungsweise -medikation zu vermeiden. Datenträger sollte die elektronische Gesundheitskarte, also der Chip auf der Versichertenkarte, sein. Allerdings genügten weder deren Speicherplatz noch die Datensicherheit den Anforderungen.

Seitdem gab es immer wieder einzelne Anläufe, doch keine Gesamtlösung. „Es fehlen einheitliche Rahmenbedingungen beim Datenschutz und bei technischen Standards, ebenso wie finanzielle Anreize, etwa Investitionsprogramme bei Kliniken“, fasst Thilo Kaltenbach, Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger, die strukturellen Probleme zusammen. Es sei leichter, ein neues Gesundheitssystem zu errichten, als ein bestehendes weiterzuentwickeln, so der E-Health-Experte. Mediziner Werner schlägt in die gleiche Kerbe: „Das Grundproblem hierzulande ist, dass stets unglaublich viele Meinungen von Verbänden und anderen Institutionen eingeholt werden. Wenn 35 Standesvertreter an einem Tisch sitzen, sagt immer einer: ‚Nein, das geht nicht.‘ So stand das Vorhaben Patientenakte von Legislaturperiode zu Legislaturperiode still.“

Nun aber bewegt sich etwas. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat im September 2018 das Terminservice- und Versorgungsgesetz auf den Weg gebracht, das am 14. März 2019 im Bundestag beschlossen wurde. Es soll nicht nur Patienten schnellere Arzttermine bringen, sondern sie ihre Gesundheitsdaten auch selbst verwalten lassen. Zu diesem Zweck sind die Krankenkassen nun verpflichtet, ihren Versicherten bis 2021 eine ePA anzubieten. Spahn: „Die Digitalisierung ist eine Riesenchance für eine bessere medizinische Versorgung. Aufzuhalten ist sie ohnehin nicht.“

Einige Versicherungen haben längst eigene Systeme entwickelt. So bietet etwa die Techniker Krankenkasse das System T-Safe an; die Allianz hält zusammen mit anderen Krankenkassen seit 2018 eines mit Namen Vivy bereit. E-Health-Experte Kaltenbach warnt vor Datenaustauschproblemen aufgrund fehlender Interoperabilität der verschiedenen Systeme.

Illustration von E-Health

Gesundheitssystem: Trotz vieler digitaler Angebote mangelt es an einer umfassenden Digitalstrategie

Patienten im Fokus?

Eine Hauptbaustelle, um dem Wildwuchs zu begegnen und Möglichkeiten zu nutzen – etwa für den Kontakt und Datenaustausch zwischen Arzt und Patient via Smartphone –, ist die Telematik, also die Vernetzung verschiedener IT-Systeme. „Mittels Smartphone lassen sich für Gesundheitsdienstleister große Potenziale heben, etwa bei der Betreuung von Diabetikern oder adipösen Patienten. Diese Patienten brauchen eine regelmäßige Rückmeldung zu ihren Blutwerten oder körperlichen Aktivitäten, was über eine App kein Problem ist“, sagt Kaltenbach. Auch Werner hält die Telemedizin für unausweichlich: „Sie wird unser Gesundheitssystem extrem weiterbringen, gerade in den ländlichen Regionen.

“Kommen wir also dahin, dass Daten und KI Leben retten? „Informationsverlust kann Tod bedeuten“, da ist sich Werner sicher. Und darin, dass die Digitalisierung im Gesundheitsmarkt schließlich vom Patienten und von seinen Bedürfnissen vorangetrieben wird. Laut einer Studie der Unternehmensberatung Deloitte stehen aber genau diese momentan noch nicht im Mittelpunkt. Eine zielgerichtete gemeinsame Digitalisierungsstrategie ist also die bittere Pille, die alle Player in der Gesundheitsbranche jetzt schlucken müssen, damit das Allheilmittel am Ende nicht Amazon oder Alphabet heißt.

Die Patientenakte

Der Gesetzgeber fordert bis 2021 die Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA). Einige Versicherer haben bereits eigene Systeme entwickelt. Der Versicherte beziehungsweise Patient hat die Ober­hoheit über seine Daten – so die Idee hinter der elektronischen Patientenakte. Er entscheidet, ob ein Arzt oder Apotheker bestimmte Daten wie Impfpass oder Medika­tion einsehen oder neue hinzufügen darf. Dabei hat er via Smartphone oder Tablet jederzeit selbst Zugriff auf seine Akte, kann sich dann per PIN oder TAN anmelden. Ziel der ePA ist es zudem, eine vernetzte Versorgung und Kooperationen im Gesundheitswesen anzuschieben.

14 %

aller Patienten in Deutschland haben im Jahr 2018 einen Arzttermin über eine Website gebucht. 2012 waren es noch fünf Prozent.

387

Milliarden Euro wurden 2018 
laut Statistischem Bundesamt im deutschen Gesundheitswesen ausgegeben.

20.06.2019    Miriam Meißner
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