Brigitte Zypries mit Christoph Straub in Berlin
01.07.2020    Thomas Eilrich
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Die Neuregelung sollte den Turbo zünden: Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, das zum Jahreswechsel in Kraft getreten ist, will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben – unter anderem durch die flächendeckende Nutzung der elektronischen Patientenakte, einen besseren Zugang zu Telemedizin und eine Kostenübernahme für Gesundheits-Apps.

Nun hat die Coronapandemie dem Thema zusätzlichen Schub verliehen. Gefordert war rasches Handeln. Sprechstunden und Krankschreibungen per Telefon oder Video wurden so früher als erwartet Teil der Praxis. Über Impulse aus Krisen, medizinische Forschung versus App-Entwicklung, aber auch über Akademiker im Pflegeberuf sprach Brigitte Zypries, Bundeswirtschaftsministerin a. D. und DUB UNTERNEHMER-Herausgeberin, mit Professor Christoph Straub, dem Vorstandsvorsitzenden der BARMER, einem der größten gesetzlichen Krankenversicherer Deutschlands.

Zur Person

Prof. Straub Chef Barmer

Professor Christoph Straub

ist seit 2011 Vorstandsvor­sitzender der BARMER. Zuvor war der Mediziner Vorstand der Rhön Klinikum AG

Die Coronakrise hat in vielen Branchen für ein Umdenken gesorgt. Was wird sich durch diese Erfahrung dauerhaft ändern?

Christoph Straub: Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel: Schon zu Jahresbeginn gab es bei uns Überlegungen, unseren CO2-Ausstoß zu verringern und effizienter zu werden. Meetings sollten anders organisiert werden. Dieses Vorhaben wurde durch die Coronapandemie extrem beschleunigt. Und die Tendenz behalten wir bei. Selbst ich werde für Meetings nicht mehr so häufig durch die Republik reisen. Im Vorstand werden wir nach der Krise weiterhin unsere Sitzungen per Videokonferenz abhalten. Für Patienten erkenne ich heute einen großen Nutzen der digitalen Technik in der Regelversorgung, sprich in den Kontaktmöglichkeiten zwischen Patient und Arzt. Auch das bleibt. Über allem steht für uns aber immer, dass der Nutzen und die Sicherheit für die Patienten stimmen müssen.

Inwieweit hat die Coronapandemie auch Ihrem An­gebot einen zusätzlichen Digitalisierungsschub verlie­hen? Der Einsatz digitaler Tools ist Ihnen ja nicht neu.

Straub: Für eine gesetzliche Krankenkasse sind wir sogar sehr frühzeitig in das Thema eingestiegen. Bereits vor der Diskussion um die elektronische Patientenakte haben wir unseren Kunden möglichst viele Angebote digital zugänglich gemacht. So beispielsweise das Einreichen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Wir waren auch die erste deutsche Krankenkasse, die Versicherten die Nutzung einer App auf Rezept ermöglicht hat. Neu ist jetzt, dass unsere Versicherten – wie beim Online-Versand – via App den Bearbeitungsstatus ihres Krankengeld-Antrags abrufen können.

Stichwort Digitale-Versorgung-Gesetz und Datennutzung: Mancher sieht eine Gefahr für den Gesundheitssektor eher darin, dass Daten nicht richtig gebraucht als dass Daten missbraucht werden.

Straub: Wichtig ist die Balance. Dreh- und Angelpunkt wird künftig die elektronische Patientenakte sein, die mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz auf den Weg gebracht wurde. Das kann ein riesiger Fortschritt für Patienten, Ärzte, Pflegekräfte und Wissenschaftler sein. Beim Datenschutz ist Deutschland Weltklasse, jedoch haben wir es möglicherweise an einigen Stellen übertrieben. Meine persönliche Überzeugung ist, dass wir unsere international führende Position behaupten werden, wenn wir in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Infrastruktur etablieren, die anonymisierte oder pseudonymisierte Daten von Versicherten nach einheitlichen, sicheren Standards sammelt, transferiert und auswertet. Bei allem Verständnis für Skepsis: Wir brauchen in der Tat einen öffentlichen Diskurs, der deutlich macht, dass Versicherte keinen Schaden nehmen, Daten nicht selektiv zugänglich sind und alle von den Ergebnissen der Datenanalyse profitieren. 

Digitales Denken braucht Ideen: Im politischen Amt habe ich unter anderem Start-ups im Bereich digitale Gesundheit mit Finanziers und Krankenkassen zusammengebracht. Wie identifizieren Sie digitale Apps und Tools, die einerseits für Sie in der Verwaltung, andererseits für die Versicherten einen Mehrwert bieten?

Straub: Zum einen haben wir als Branchenvorreiter nach langen Verhandlungen erreicht, dass wir in einen Wagniskapitalfonds in diesem Bereich investieren ­können, um Start-ups im Gesundheitssektor gezielt zu fördern. Rendite ist hier nicht das Ziel. Es geht um den Kontakt zu vielen Start-ups, die wir über Jahre begleiten. Wir diskutieren mit den Gründern über Erfolgsaussichten und Bedingungen, unter denen eine Technologie marktfähig wird. Zum anderen stellen wir hier in Berlin unsere Räume für Veranstaltungen und Pitches von Start-ups und auch externen Partnern zur Verfügung. All dies liefert Inspiration. Zudem gibt es hier mittlerweile eine etablierte Szene, deren Vertreter direkt mit möglichen Anwendungen zu uns zukommen und denen wir den Marktzugang ermöglichen können.

Wie prüfen Sie den Nutzen einer Anwendung?

Straub: In der medizinischen Versorgung haben wir völlig zu Recht extrem hohe Anforderungen, was den Nachweis des Nutzens beispielsweise von Arzneimitteln angeht. Standards, die dort gelten, können jedoch nicht so einfach auf digitale Anwendungen übertragen werden – was schon allein daran liegt, dass sich Apps in ihrer Anwendung und Nutzung ständig weiterentwickeln. Wenn ich heute eine Studie über drei oder vier Jahre mit Tausenden Patientinnen und Patienten durchführe, hat sich bis zu deren Ergebnis die digitale Welt längst weitergedreht. Vermutlich wäre dann bereits eine dritte oder vierte Generation leistungsfähigerer Apps auf dem Markt. Wir müssen den so wichtigen Aspekt des Nutzen-Nachweises also an die Gegebenheiten der modernen Technologie anpassen.

Leidet dieser hohe Standard für Arzneimittel womöglich, wenn es um die Entwicklung eines Impfstoffs für Covid-19 geht? Vor dem Hintergrund, dass sich die Gesellschaft nach einem schnellen Ausweg sehnt?

Straub: Richtig ist, dass wir heute nicht wissen können, wie lange die Entwicklung eines Impfstoffs dauert. Es wird jedenfalls nicht sofort passieren. Erst müssen Studien die Sicherheit, Unbedenklichkeit und Richtigkeit der Dosis nachweisen. Derzeit werden eine Vielzahl von Ansätzen parallel verfolgt. Es ist zwar unwahr­scheinlich, dass alle funktionieren, aber ebenso unwahrscheinlich, dass keiner der Ansätze geeignet ist.

Machen wir einen Ausflug in das Thema Pflege: Zwar erfährt der Beruf in diesen Zeiten eine größere öffentliche Warnehmung, erscheint aber dennoch wenig attraktiv. Wie lässt sich das aus Ihrer Sicht ändern?

Straub: Dieses Thema stellt seit Jahren ein großes Problem dar. Vor allem im stationären Bereich. In Krankenhäusern hängt das eng mit dem Finanzierungssystem zusammen. In der Vergangenheit wurden Pflegekapazitäten abgebaut, um den Ertrag zu verbessern. Das ist aus wirtschaftlicher Sicht vielleicht nachvollziehbar, hat uns als Gesellschaft jedoch ein Problem beschert. Wir brauchen in diesem Bereich flächendeckend Tarifverträge. Denn dort, wo es Tarifverträge gibt, wird Pflege schon heute besser bezahlt. Das Schulgeld für die Ausbildung wurde ja bereits abgeschafft. Man kann jetzt also diesen Beruf erlernen, ohne selbst Mittel aufbringen zu müssen. Wir brauchen jedoch zusätzlich eine Quote akademisch ausgebildeter Pflegekräfte. Über Qualifikation müssen für diese dann Berufsbilder im Managementbereich erreichbar sein. 

Könnte beispielsweise der Einsatz von Robotern die Pflege verändern und dadurch auch das Berufsbild?

Straub: Diese Frage zu beantworten fällt mir schwer. Denn ich bin einmal Arzt geworden, gerade weil die medizinische Versorgung vor allem auf persönlichem Kontakt basiert. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Roboter in größerem Ausmaß eingesetzt werden. Aber ich sehe auch, dass Projekte, in denen beispielsweise Roboter in Rehabilitationskliniken eingesetzt werden, um die Patienten zu motivieren, tatsächlich funktionieren. Solange es sich um freiwillige Angebote handelt, die von Patienten akzeptiert werden, sollten wir den Einsatz von Robotern unterstützen. 

Zurück zur Coronapandemie. Wer sollte eigentlich über die Lockerungen entscheiden – Wissenschaft oder Politik?

Straub: Die Politik. Wissenschaftler stützen sich auf Evidenz und legen sich erst fest, wenn sie konkrete Beweise für eine Aussage haben. Ihnen sind beim Wunsch nach konkreten Aussagen die ­Hände gebunden, weil nach aktuellem Forschungsstand nur Tendenzen und Vermutungen geäußert werden können. Das prallt jedoch auf die Notwendigkeit von Entscheidungen, die getroffen werden müssen. In der Krise sollten wir auf eine Strategie setzen, die nicht zu stark belastet. Wir dürfen nicht für den Preis einer all­um­fassenden medi­zinischen Absicherung unsere Wirtschaft ruinieren.

65 %

Digitale Krankenakte, digitaler Impfpass, digitaler Medikationsplan: All das ist die elektronische Patientenakte (ePA). 65 Prozent der Deutschen würden die ePA nutzen. Das zeigt eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom. Allerdings muss dabei vor allem eine Bedingung erfüllt sein: 61 Prozent der Befragten wollen, dass die Datenhoheit beim Patienten liegt.

76 %

Im Einsatz von Robotern in der Pflege sehen gut zwei Drittel der Deutschen vor allem Chancen. Das zeigt der Report „Pflege und digitale Technik“ des Zentrums für Qualität in der Pflege. Wo Technik Pflegebedürftigen besonders helfen könnte? Sie könnte an die Medikamente und das Essen erinnern, sagen 76 Prozent – und bei der Kommunikation helfen (71 Prozent).

01.07.2020    Thomas Eilrich
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