Portrait Doktor Jens Baas E-Health
20.06.2019    Miriam Meißner
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Letztens beim Zusammenzimmern seines Carports wollte das Handgelenk von TK-Vorstand Jens Baas einen Krankenwagen rufen. Genauer gesagt war es seine Smart-Watch, die das Hämmern als Zeichen eines schweren Sturzes wertete. Auch wenn die Uhr in diesem Moment falsch lag, zeigt sie doch das Potenzial, das in einem digitalisierten Gesundheitswesen steckt. Eine Uhr, die bereits mit den eigenen Gesundheitsdaten verknüpft ist, könnte zum Beispiel einschätzen, ob ein erhöhtes Schlaganfallrisiko vorliegt – und im Notfall Hilfe anfordern. So Baas’ Vision. Deutschland befinde sich nun in der Aufholjagd, was die Digitalisierung im Gesundheitssystem angeht.

Zur Person

Portrait Jens Baas

Dr. Jens Baas

Der Arzt und ehemalige Partner der Unternehmensberatung Boston Consulting Group sitzt seit 2011 im Vorstand der Techniker Krankenkasse.
Seit Juli 2012 ist er ihr Vorstandsvorsitzender

DUB UNTERNEHMER-Magazin: Die Bertelsmann Stiftung untersuchte das Gesundheitswesen in 17 Staaten auf seinen Digitalisierungsgrad. Deutschland belegt Rang 16. Holen wir den Rückstand noch auf?

Jens Baas: Wir müssen ihn aufholen, weil es wirklich peinlich ist, dass wir als fortschrittliches Land ausgerechnet in diesem Bereich dermaßen hinter­herhinken. Länder wie Estland sind uns hier zumindest in Teilbereichen weit voraus. Allerdings darf man
auch nicht alles, was anderswo gemacht wird, einfach unkritisch zum Vorbild nehmen. So entspricht vieles von dem, was wir in anderen Ländern sehen, bei Weitem nicht unseren Ansprüchen. Das Thema Datenschutz ist so ein Beispiel. Nur kann das ja keine Entschuldigung sein, warum wir es nicht selbst besser zu machen versuchen. Der wahre Grund, warum wir beim Thema Digitalisierung des Gesundheitswesens oft so schlecht abschneiden, ist leider meist ein sehr banaler: Das bisherige System funktioniert – und viele Leute leben sehr gut darin. Da ist die Veränderungsbereitschaft natürlich nicht ganz so groß.

Liegt das auch daran, dass die Politik jahrelang auf Selbstverwaltung im Gesundheitswesen setzte?

Baas: Nein, ich glaube, damit macht man es sich zu einfach. Das Selbstverwaltungsprinzip finde ich gut und sinnvoll. Fakt ist jedoch, und das muss man schon selbstkritisch sagen, dass die Selbstverwaltung die Digitalisierung nicht an jedem Punkt so schnell voran­gebracht hat, wie wir es uns gewünscht hätten.

Wie schätzen Sie den Angriff von Amazon, Google & Co. auf den deutschen Gesundheitsmarkt ein?

Baas: Es gibt unglaublich viele unerfüllte Bedürfnisse im deutschen Gesundheitssystem, gleichzeitig ist es ein riesiger Markt mit über 80 Millionen Menschen. Diese beiden Faktoren machen das Gesundheitswesen attraktiv, und daher sehen wir bereits, wie internationale Tech-Riesen in diesen Markt drängen. Das scheint auf den ersten Blick gar nicht so verkehrt, weil Angebote entstehen, die attraktiv für die Versicherten oder Patienten sind. Aber wir laufen damit Gefahr, dass unsere Branche ein Uber- oder Airbnb-Effekt ereilt. Das hieße: Die Menschen befragen erst einmal Alexa oder Siri zu ihrem gesundheitlichen Problem, diese offerieren dann eine mögliche Diagnose, nennen gleich noch den besten Spezialisten, machen einen Termin und rufen ein Taxi – für den Nutzer scheinbar ein perfekter Rundumservice. Das Problem in diesem Szenario: Es würde genauso wie etwa bei Hotelportalen nicht nur strikt nach Qualität, sondern auch nach ökonomischen Gesichtspunkten gesteuert werden. Nicht das Wohl des Patienten steht im Vordergrund, sondern ökonomische Interessen.

Vor diesem Hintergrund erscheint eine gemeinsame Marschrichtung der Krankenkassen unumgänglich.

Baas: Ja, ich halte das für extrem wichtig. Aber nicht nur die Krankenkassen sollten hier zusammenhalten, sondern alle am Gesundheitswesen Beteiligten, also vor allem auch die Leistungserbringer. Wenn wir den globalen Playern begegnen wollen, müssen wir an einem Strang ziehen. Sehen Sie nur mal auf Ihre Geräte, dann wird klar, welche Gesundheitsdaten Apple und Google bereits heute besitzen. Wir müssen aufhören mit diesen Klein-Klein-Streitigkeiten untereinander, denn mit diesen Giganten kommt eine Veränderung auf das gesamte System zu. Und auch wenn das viele denken: Regulierung wird uns vor dieser Revolution nicht schützen. Es wäre blauäugig zu ­glauben, dass die Politik für alle Ewigkeiten etwas verbietet, was die Menschen haben wollen.

Gibt es eine Vision für die Zusammenarbeit?

Baas: Es gibt nicht nur eine Vision, sondern wir sind hier sehr aktiv. Die Grundvoraussetzung ist die Möglichkeit für die Patienten in Deutschland, selbst über ihre Gesundheitsdaten zu verfügen. Deswegen haben wir seit einiger Zeit darauf gedrungen, dass es eine einheitliche, nicht wettbewerbliche elektronische Patientenakte in Deutschland geben muss, in der
jeder Versicherte seine Daten sichern und nur er selbst auf diese zugreifen und sie freigeben kann.

Warum zieht sich die Einführung dieser Patientenakte für alle immer weiter hin?

Baas: Wie gesagt, viele Akteure profitieren von unserem an sich gut funktionierenden Gesundheitssystem, so wie es ist. Es herrscht wenig Veränderungsbereitschaft. Viele unterschiedliche Interessen stehen gegeneinander, da ist der Weg zu einer gemeinsamen Vernetzungslösung weit und voller Stolpersteine.

Also haben Sie das Thema schließlich selbst in die Hand genommen?

Baas: Ja, wir haben vor gut zwei Jahren gesagt, wir gehen jetzt mit unserer Gesundheitsakte TK-Safe voran, einfach um zu zeigen, dass es geht. Auch in Deutschland. Aktuell nutzen schon über 220.000 Versicherte TK-Safe. Damit können wir das Thema enorm vorantreiben. Jetzt kam uns die Tatsache zugute, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Digitalisierung auf seiner Agenda ganz nach oben gesetzt hat, was er kürzlich durch die Verabschiedung des Digitale-Versorgung-Gesetzes unterstreichen konnte.

Welche Vorteile bietet die Patientenakte, die ab 2021 eingeführt werden soll?

Baas: Unsere Grundlogik ist, dass die Daten ausschließlich dem Versicherten gehören und nur er bestimmt, wer darauf Zugriff hat. Der Patient muss dem Arzt dann nicht mehr die roten Pillen beschreiben, die er nimmt, sondern hat seine komplette Gesundheitshistorie in der Akte gebündelt. Das kann zum Beispiel die Zahl von Behandlungsfehlern und Doppelunter­suchungen verringern. Zudem haben wir die Möglichkeit, neue Services anzubieten. Wir sehen in der Bünde­lung der Daten unter der Kontrolle des Patienten ein enormes Potenzial, die Versorgung zu verbessern.

Was entgegnen Sie Kritikern, die eine Entmenschlichung durch Digitalisierung befürchten?

Baas: Ich glaube, dass die Digitalisierung die Medizin sogar menschlicher machen kann, weil sie dem Arzt viele der lästigen Verwaltungsaufgaben abnimmt. Muss er nicht einem Röntgenbild hinterherlaufen, dann kann er sich mehr auf das konzentrieren, was auch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung immer seine Aufgabe sein wird: mit den Menschen zu kommunizieren. Ich bin allerdings überzeugt, dass es in zehn Jahren sogar als Kunstfehler gelten wird, Dia­g­nosen zu stellen, ohne ein digitales Expertensystem zu nutzen. Ärzte werden künftig also nicht nur auf ihre eigenen Fallerfahrungen zurückgreifen, sondern auf Millionen von Patientendaten, um die beste Entscheidung über Diagnose und Therapie treffen zu können.

Inwieweit scheitern Ihre Ideen an der Regulatorik im Gesundheitsmarkt?

Baas: Das ist schon ein Problem. Ein Beispiel: Als Krankenkasse wissen wir heute, wenn Versicherte verschiedene Medikamente bekommen, denn wir bezahlen sie ja. Und wir könnten auch herauslesen, ob es Wechselwirkungen gibt. Da ist nicht einmal eine Künstliche Intelligenz vonnöten, das ist eine ganz banale Datenbankabfrage. Diesen Umstand dürfen wir dem Betroffenen aber nicht mitteilen, weil das gesetzlich nicht zur Aufgabe einer Krankenkasse zählt. Das zeigt, wie schwer es ist, Innovationen durchzusetzen. An solche Grenzen geraten wir immer wieder – und diese gilt es zu verschieben.

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) wird es künftig Apps auf Rezept geben. Wie stark wird das die Versorgung verändern?

Baas: Ich denke, diese Regelung im DVG bietet die Chance, die Versorgung auf vielfältige Weise zum Besseren zu verändern. So erhalten nun etwa Start-ups eine Grundlage, wie ihre Innovationen finanziell gefördert werden können. Und Krankenkassen bekommen eine Rechtsgrundlage für die Kooperationen mit innovativen App-Entwicklern. Dennoch müssen wir als Krankenkasse bei etwaigen Investitionen natürlich darauf achten, dass die Versichertengelder gut angelegt sind und entsprechend sinnvolle Versorgungsangebote geschaffen werden.

Woran liegt es, dass digitale Innovationen nur langsam in der Regelversorgung ankommen?

Baas: Unser Gesundheitsmarkt ist von komplexen Verfahren für Zulassung und Erstattung geprägt, auch bei digitalen Anwendungen. Und das ist natürlich etwas, was in einem klassischen Produktentwicklungszyklus einer Venture-Capital-getriebenen App nicht angelegt ist. Wenn sie erst eine zweijährige Bewertungsphase durchlaufen muss, ist das Geld ausgegangen. Wir sind deshalb für eine schnellere, aber befristete Zulassung. Dafür müssen die Apps erst einmal nachweisen, dass von ihnen keine Gefahr für die Nutzer ausgeht und ein Mindestmaß an Wirksamkeit gewährleistet ist. Zudem werden die App-Anbieter verpflichtet, den Nutzen in der Phase der befristeten Zulassung nachzuweisen. Dieses Ergebnis entscheidet darüber, ob das Produkt weiter zugelassen bleibt. Das könnte den Prozess deutlich beschleunigen.

E-Health ist ein Zukunftsgeschäft. Wo suchen Sie nach Inspirations- und Innovationsquellen?

Baas: Natürlich informiere ich mich, wie andere Länder ihre Gesundheitssysteme organisieren. Vor allem beobachte ich aber intensiv, was in anderen Industrien passiert. Seien das nun Prozesse in der Autoindustrie oder der Einsatz von KI in der Klimaforschung: Aus vielem können wir für das Gesundheitswesen lernen. Auch sollten wir meines Erachtens viel stärker in Richtung China schauen. Dort kann man schon viele Aspekte eines digitalen Gesundheits­wesens oder sogar eines digitalen Staates sehen, und gleichzeitig bekommt man dort überdeutlich die möglichen Gefahren vor Augen geführt. In Summe gilt: Die Systemveränderer werden wahrscheinlich nicht aus dem Gesundheitssystem kommen, sondern es werden Google, Apple und andere sein. Wenn wir selbst noch gestalten wollen, dann ist der Zeitpunkt jetzt!

20.06.2019    Miriam Meißner
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