Illustration von digitaler Kugel
23.06.2020    Madeline Sieland
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Manch eine Regelung mutet zunächst absurd an. Diese etwa: Krankenkassen wissen genau, welche Medikamente ihren Versicherten verschrieben werden. Was aber passiert, wenn zwei Ärzte unabsichtlich etwas verschreiben, was sich nicht mit­einander verträgt? Etwa weil Patienten über keinen Medika­tionsplan verfügen. Oder weil sie trotz Nachfragen nicht alle eingenommenen Mittel angeben.

Laut einer Studie des Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) hat jeder 200. TK-Versicherte schon einmal Medikamente verschrieben bekommen, deren gleichzeitige Einnahme ein Gesundheitsrisiko berge. Zu den harmloseren Folgen zählen Übelkeit und Schwindel. Im schlimmsten Fall können Wechselwirkungen allerdings zum Tode führen. Man sollte also meinen, Krankenkassen warnen ihre Versicherten vor den potenziell gefährlichen Wechselwirkungen. Doch: „Die Daten sind da, eine Auswertung ist technisch einfach möglich, aber eben nicht erlaubt“, schreibt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, in seinem neuen Buch „Digitale Gesundheit in Europa“.

Buchvorschau von TK-Chef Jens Baas: „Digitale Gesundheit in Europa“

Ohne Daten geht es nicht

Was dabei helfen kann, diese Sicherheitslücke bei der Behandlung zu schließen, sind elektronische Gesundheitsakten wie TK-Safe. Darin können Versicherte der TK seit Mai 2019 medizinische Daten – also Medikationspläne, Impfungen, Diagnosen, Röntgenbilder et cetera – zentral speichern und jederzeit einsehen. Ärzte haben nur mit Erlaubnis des Patienten Zugriff auf diese Informationen.

Was bisher nur einzelne Kassen anbieten, wird ab 2021 die Norm. Denn dann können alle gesetzlich Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) von ihrer Krankenkasse erhalten. So will es das Digitale-Versorgung-Gesetz, das die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen soll. Vor allem in vier Bereichen sind dank digitaler Technologien fundamentale Veränderungen zu erwarten, wie Baas schreibt:

  • neue Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten durch die intelligente Nutzung von Big Data
  • eine Verbesserung der Versorgung durch digitale Anwendungen wie Telemedizin
  • Künstliche Intelligenz als ärztliche Assistenz bei der Diagnose- und Therapiefindung
  • Prozessoptimierungen durch die Vernetzung von Patienten und Krankenkassen

Eines haben diese Punkte gemeinsam: Ohne die Erhebung und Auswertung von Daten wird es keine Fortschritte geben. „Auch wenn der viel zitierte Vergleich, Daten seien das Öl des 21. Jahrhunderts, banal klingt, sind Daten doch zweifelsohne schon heute eine Währung, mit der Konzerne wie Facebook und Google zu den reichsten der Welt wurden“, so Baas. „Aber zum Öl gibt es einen entscheidenden Unterschied: Auch wenn die Fördertechniken noch so verbessert werden, dieser Rohstoff ist endlich. Wohingegen schon heute jede Sekunde eine unvorstellbar hohe Zahl an Daten produziert wird. Dieser Rohstoff wird nie versiegen.“

Die größten Tech-Unternehmen der Welt haben verstanden, dass sich auch im Gesundheitswesen durch intelligente Datennutzung neue Geschäftsmöglichkeiten ergeben. Und so drängen in den USA längst Google, Apple, Facebook und Amazon in den Gesundheitsmarkt; in China mischen Baidu, Alibaba und Tencent kräftig mit – und der Versicherungskonzern Ping An. Dessen Tochterunternehmen Good Doctor ist mit rund 250 Millionen registrierten Nutzern die größte Telemedizin-Plattform der Welt und steht Versicherten rund um die Uhr zur Verfügung. Good Doctor betreibt zudem Gesundheitskioske, in denen Versicherte einem Robo-Arzt ihre Symptome schildern können.

Wo Datenschutz keine Rolle spielt

Die großen Player profitieren beim Eintritt in den Gesundheitsmarkt von einem viel entspannteren Umgang mit dem Datenschutz in ihrer Heimat. Denn Daten sammeln, auswerten und Kapital daraus schlagen: Das ist in den USA legitim, wird von den meisten Verbrauchern nicht kritisch hinterfragt. „Es scheint paradox zu sein: Die meisten Menschen sind sich bewusst, dass ihre Daten ausgewertet und gespeichert werden, nutzen die Anwendungen aber trotzdem“, so Baas. Auch hierzulande. Weil die Nutzung von Google Maps, WhatsApp & Co. eben bequem und einfach ist.

Deutlich befremdlicher ist aus deutscher Sicht allerdings der Blick nach China. „Während die Monetarisierung von Daten in den USA zum kapitalistischen Selbst-verständnis zu gehören scheint, liegen die Daten in China beim Staat oder unterliegen zumindest dessen unmittelbarem Zugriff“, so Baas. Und die chinesische Regierung nutzt die gesammelten Daten ausgiebig: Mithilfe des Social-Credit-Systems, eines datenbasierten Belohnungs- und Sanktionssystems, wird sichergestellt, dass die Bürger sich an Gesetze halten und sich vorbildlich benehmen. Und das heißt: Punktabzug bekommt, wer etwa zu schnell fährt oder kriminell wird. Pluspunkte dagegen gibt es unter anderem für Blutspenden oder die Pflege eines Angehörigen. Wer zu wenige Punkte hat, wird sanktioniert – zum Beispiel durch Reisebeschränkungen, höhere Steuern oder eine schlechtere Krankenversicherung.

Inhalt

75 %

Apps, elektronische Patientenakten, Künstliche Intelligenz, Roboter: Gut drei Viertel der Deutschen glauben, dass digitale Lösungen die Qualität des Gesundheitssystems verbessern würden. Das zeigt die Studie „European Study on the Digitalisation of the Healthcare Path­ways“ der Technologieberatung Sopra Steria.

21 %

Laut einer Studie der Beratung Capgemini sehen 81 Prozent der Versicherer Amazon als größten Herausforderer. Die gute Nachricht für sie: Nur 21 Prozent der Deutschen trauen Amazon und anderen US-Tech-Konzernen zu, wirksame digitale Lösungen zu entwickeln, die das Gesundheitswesen verbessern. Auch das zeigt die Umfrage von Sopra Steria.

23.06.2020    Madeline Sieland
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